Tim Habicht: Europäische Aktien leiden im aktuellen Marktumfeld und entsprechend wurden auch die Kurse angepasst. Herr Kos, warum fahren Sie in diesem mannigfaltigen Krisen-Umfeld eine Übergewichtung bei europäischen Titeln?
Hartwig Kos: Als großes kontinental-europäisches Investmenthaus haben wir per se eine Affinität zu europäischen Aktien. Anfang dieses Jahres waren wir ihnen gegenüber allerdings sehr vorsichtig positioniert. Zum einen aufgrund der Kriegs-Situation und zum anderen aufgrund der generellen Unsicherheit in Bezug auf die Wirtschaft. Aber in den vergangenen Monaten haben wir für eine taktische Allokation durchaus wieder Chancen bei europäischen Aktien gesehen. Denn die Federal Reserve wird wahrscheinlich langsamer in ihrem Zinszyklus werden und die EZB wird unserer Ansicht nach dieser Entwicklung mit Zeitverzögerung folgen müssen. Zudem haben die Bewertungen von europäischen Aktien zum Zeitpunkt unserer Entscheidung, ein Übergewicht zu halten, sehr gut ausgesehen. Das war eine taktische Entscheidung, die wir vorerst noch halten. Das kann sich aber wieder ändern.
Habicht: Herr Heinrich, Sie sind aktuell negativ im Hinblick auf europäische Aktien gewichtet. Was macht Herr Kos falsch?
Lars Heinrich: Er macht im Prinzip erstmals gar nichts falsch (lacht). Denn ein taktisches Gewicht kann grundsätzlich immer aufgehen. Wir haben uns allerdings schon für die kommenden zwölf bis 18 Monate positioniert – denn wir sehen die Entwicklungen bei der Fed ein wenig anders. Wir gehen davon aus, dass die Fed bei den Zinserhöhungen eher bremsen wird als die EZB, da die EZB noch Nachholbedarf hat. Allerdings ist unsere Annahme, dass gerade die techlastigen US-Indizes deutlich mehr profitieren werden, sobald die Fed bremst. Wachstums-Titel werden wieder outperformen und da sind schon durch das Index-Gewicht die Europäer deutlich im Nachteil.
Die Teilnehmer im Überblick:
- Lars Schickentanz, Head of Alpha Strategies: Anima
- Tobias Schäfer, Leiter Fondsstrategien und Managerselektion: Berenberg
- Hartwig Kos, Leiter Multi-Asset-Allokation: DWS
- Marc Momberg, Leiter Portfoliomanagement: Apo Asset Management
- Lars Heinrich, PL Managerselektion/ Fondsresearch: W&W Asset Management
- Tim Habicht, Geschäftsführender Gesellschafter: Fundview
Habicht: Marc Momberg, ist die Bewertung europäischer Aktien noch nicht günstig genug, oder warum sind Sie auch entsprechend vorsichtiger positioniert? Wir sprechen schließlich schon seit vielen Jahren vom Aufholpotenzial Europas gegenüber den USA, welches sich aber bisher noch nicht bewahrheiten konnte.
Marc Momberg: Grundsätzlich ist das richtig. Wenn man sich die historische Rendite über die letzten zehn Jahre anschaut, dann haben wir beim S&P 500 fast 15 Prozent annualisierte Rendite gesehen – Eurostoxx konnte nur sechs Prozent erzielen. Rein aus der Historie heraus müsste man also sagen, man braucht keine Investments in Europa. Auf der anderen Seite sehen wir deutliches Potenzial für aktive Stock Picker, wenn man gute europäische Aktienfonds im Small- und Mid-Cap-Bereich, aber auch im Large-Cap-Bereich betrachtet. Dort waren die Manager durchaus in der Lage, Renditen von zehn bis zwölf Prozent zu erzielen. Das heißt, wir sehen in diesem Markt ein sehr großes Alpha-Potenzial – gerade über die mittlere bis längere Frist.
Habicht: Wie sind Sie also in Bezug auf Europa und den USA aufgestellt?
Momberg: Wir befinden uns in etwa zwischen Herrn Heinrich und Herrn Kos. Das heißt, wir haben noch eine Untergewichtung, werden aber auch in der nächsten Zeit Chancen nutzen, um Positionen aufzubauen, die wir längere Zeit untergewichtet hatten. Denn Europa bietet durchaus Potential – allerdings im ersten Schritt zunächst für aktive Manager. Ohne dass wir das reine Marktexposure steuern, nehmen wir also zunächst innerhalb der Gewichtungen Anpassungen vor.
Habicht: Herr Schickentanz, sind Sie ähnlich optimistisch gestimmt?
Lars Schickentanz: Kurzfristig würde ich sagen haben wir jetzt eine tolle Rallye gehabt und für die nächsten Monate bin ich eher pessimistisch. Wir befinden uns in einem Übergang von Zins-Inflations-Ängsten und Rezessions-Ängsten. Das sollte den Jahresanfang relativ trüben und wir erwarten eine Kurskorrektur vor allen Dingen in den zyklischen Aktien und unter Umständen auch bei Long-Duration-Aktien.

Habicht: Und mittelfristig betrachtet?
Schickentanz: Für die kommenden zwölf bis 18 Monate bin ich recht positiv gestimmt. Denn mit dem nächsten Rücksetzer haben wir diesen Bärenmarkt-Zyklus beendet. Vor allem im Hinblick auf die zweite Jahreshälfte 2023 und das Jahr 2024 sehe ich unheimlich viele positive Treiber für Aktien. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass europäische Aktien oder auch deutsche Aktien dort neue Höchststände erreichen können. Getrieben wird das natürlich vor allem vom China-Reopening und einer Inversion des Zinszyklus bis zum Jahr 2024. Außerdem wird es massive Investitionen auf der ganzen Welt geben, getrieben durch die Dekarbonisierung, das zunehmende Onshoring und unter Umständen auch rund einer Trillion US-Dollar für den Wiederaufbau der Ukraine. Das könnte zu einem regelrechten Capex-Boom bis zum Jahr 2025 führen.
Habicht: Tobias Schäfer, Sie halten eine neutrale Gewichtung europäischer Titel. Tendieren Sie für die Zukunft eher zu einem Unter- oder zu einem Übergewicht?
Tobias Schäfer: Ich kann mit der Meinung von Lars Schickentanz und Marc Momberg anschließen. Ich denke auch, dass die Bewertung speziell bei den US-Large-Caps ausgesprochen hohe Prämie ausweisen im Gegensatz zu den europäischen Positionen. Daher ist dieses Segment mittlerweile aber kurzfristig etwas anfälliger für eine Korrektur, weshalb wir unseren Fokus nicht mehr auf die US-Large-Caps legen. Vielmehr finde ich, dass die zweite Reihe in den USA durchaus einen Blick wert ist und man auch in Europa nach aktiven Managern schauen kann. Hier stellt sich dann die Frage, wie man Opportunitäten, die sich aus den Bewertungsperspektive durch die vielen negativen Nachrichten ergeben – und die bereits im Markt eingepreist sind –, für eine positive Performance nutzen kann.